Angriffe in Köln – Ist Aufrüstung die Antwort?
Vor einigen Jahren durfte ich Großmeister Kernspecht als Autor für das BlitzDefence-Buch für Frauen unterstützen. In dem Buch, wie auch in meiner Arbeit als Sprecher der EWTO, habe ich dabei immer Wert darauf gelegt herauszustellen, dass Fremdtäter nicht die wichtigste Bedrohung für sexuelle Gewalt darstellen. Ja, es gibt den Täter, der aus dem Gebüsch springt – statistisch betrachtet aber kommen auf jedes einzelne Delikt eines Fremdtäters sexuelle Verbrechen eines Nachbarn, eines Arbeitskollegen und eines engen Freundes. Wir haben als Verband sogar schon Drehanfragen von Sendern abgelehnt, die kein Interesse an einer differenzierten Berichterstattung hatten und nur das Bild des maskierten Triebtäters verbreiten wollten.
Nach den aktuellen Ereignissen in Köln und ähnlichen Vorkommnissen in Hamburg und Stuttgart muss man sich allerdings Sorgen machen. Sogar mehrfach. Wir müssen uns hüten vor Vorverurteilungen und wir dürfen nicht verallgemeinern. Aber wir müssen uns schützen, denn klar ist auch: Solche Ereignisse schüren Angst. Hier geht es nicht um Wahrscheinlichkeiten und Statistiken, sondern um das Gefühl von Unsicherheit. Und das verbreitet sich rasant. Auf Google wird der Begriff „Selbstverteidigung“ so häufig gesucht wie lange nicht mehr. Außerdem beliebt: „kleiner Waffenschein“. Wer die Kommentarspalten unter den Artikeln der Nachrichtenseiten liest, findet eine Mischung aus Hass und Angst. Wer sich beruflich mit Kampfkunst beschäftigt, denkt automatisch weiter: „Stecken manche Frauen jetzt aus Angst ein Messer ein oder verlassen das Haus nur noch mit Pfefferspray?“ So verständlich dieser Impuls ist, man muss dringend davon abraten. Wer eine Waffe einsetzt, deren Umgang er nicht sehr gut beherrscht, läuft mehr Gefahr, sich selbst zu verletzen, als dass er sich schützt. Schnell hat der Täter einem das Messer aus der Hand gerissen und ist jetzt selbst bewaffnet.
Die kommunikative Ebene schwindet
Vonseiten der Polizei hört man, dass dies eine „neue Qualität der Gewalt“ sei. Wer möchte das nach den bisherigen Berichten bestreiten? Bleibt die Frage, wie man mit so einer Bedrohung umgehen soll. In VERTEIDIGE DICH sprachen wir von Grenzen ziehen, Grenzen bewachen und Grenzen verteidigen. Ein ganzes Kapitel wurde der Kommunikation gewidmet. Und die darin enthaltenen Tipps zur Körpersprache gelten weiterhin, allerdings helfen sie nicht in Situationen wie auf der Kölner Domplatte oder bei anderen körperlichen Angriffen. Hier schwindet die kommunikative Ebene auf ein Minimum, so dass es mehr denn je auf die erste und die dritte Phase der Selbstverteidigung hinausläuft: extreme Aufmerksamkeit (Stichwort Gefahrenradar) und kompromisslose körperliche Verteidigung. Letztere sollte durch den Einsatz von Alltagsgegenständen – wie einem Handy oder einem Kugelschreiber – verstärkt werden. Und dies will geübt sein.
Verschiedene Szenarien trainieren
Guter Selbstverteidigungsunterricht muss vielschichtig sein. Es gilt weiterhin, auch rhetorische Mittel gegen eine Belästigung am Arbeitsplatz zu üben. Genau so viel Zeit muss aber der effektiven und kompromisslosen Verteidigung gewidmet werden. Und zwar gegenüber Tätern, die einen nicht verstehen (wollen). Zögern kann hier gefährlich werden. Aber was tun, wenn es sich um mehrere Gegner handelt, wie bei den Fällen in Hamburg, Köln oder Stuttgart? Hier sollte man auf sein persönliches Gefahrenradar hören, um gefährliche Situationen, wenn möglich, im Ansatz zu verhindern. Und es gilt, vorbereitet zu sein. Ich habe heute mit meiner Kollegin Sifu Sabine Mackrodt telefoniert, die eine WingTsun-Schule für Frauen in Kassel betreibt und sie gefragt: „Was denkst Du, sollen Frauen jetzt auf High Heels verzichten, wenn sie abends unterwegs sind?“ Ihre Antwort: „Frau soll das tragen, worin sie sich stark fühlt und sich gut verteidigen kann. Man sollte sich fragen: ‚Kann ich in meinem Outfit kämpfen, wenn es darauf ankommt?‘“
Um zur Ursprungsfrage zurückzukommen: Aufrüsten ja, aber mittels Training – nicht mit Waffen. Genau wie es im WingTsun-Unterricht üblich ist, Rollenspiele zu trainieren, finden in den meisten EWTO-Schulen auch immer wieder Einheiten statt, in denen man in der Kleidung trainiert, die man privat auch tatsächlich trägt. Und dies sowohl innerhalb der WingTsun-Schule, als auch außerhalb des gewohnten Trainingsraums. Es empfiehlt sich, das mit dem Einsatz von Alltagsgegenständen als Hilfsmittel zu verbinden, um für den Ernstfall gewappnet zu sein. Einem Fall, der hoffentlich nicht eintritt.
Text: A. Karkalis Fotos: EWTO | 05.01.2016 - 18:49